Ruhig führt Marcel Zickermann Lutz bis kurz vor den ver- meintlichen Anschuss, legt den Hund ab, der mit aufmerk- samem Blick das Geschehen verfolgt. In Ruhe und präzise untersucht der erfahrene Nachsuchenführer das Terrain nach Schweiß, also Blutspritzern, des gegebenenfalls verwundeten Rottieres ab. Jedoch weisen Grashalme, verwehte Herbst- blätter und kleine Zweige kein »Rot« auf. Auch sogenannte Schnitthaare, wie sie Geschosse mit einem Scharfrand beim Einschlagen in den Wildkörper leifern, fehlen. Weder Inhalt aus der Körperhöhle, Knochenstücke oder kleine Lungen- partikel, wie sie häufig aus dem Ausschuss eines Schusskanals herausgetragen werden, sind zu finden. Und letztlich weist auch der Boden keine sichtbaren Zeichen einer bestürzten Flucht nach einem Schusstreffer hin. Keine tiefen Eingriffe der Schalen der beim sogenannten Schalen- wild zweigeteilten Hufe haben den Boden aufgerissen und weisen den Weg. »Fehlschuss?« die Frage schwebt im Raum zwischen den Gräsern der Schneise und dem angrenzenden Fichtenbestand. Nein, so einfach machen sich Zickermann und sein Hirschmann die Sache nicht. Den Hund am Riemen ruhig an den Schussbereich geführt, kommt das Komman- do »Such verwund«. Sekunden später hat der Hannoveraner seine Nase tief am Boden, schlägt einen kleinen Bogen und noch einen und zieht zielstrebig in den Wald. Hindurch durch arm- und beindicke Fichten, die mit stachelig, abgestorbe- nem Geäst Hundeführer, Begleiter und Redakteur am Fort- kommen hindern. Mittenhindurch, über Schneisen, durch Dickungen und Brombeergerank, über Stubben und durch Lunken zieht der Hirschmann auf unbekannter Fährte seine Bahn. Patschnass schlagen die grünen Zweige junger Fichten wie kleine Peitschen um sich, als wollten sie die wilde Hatz aufhalten. Der Hund folgt seiner Passion, Zickermann lässt ihn sein Tempo gehen, folgt selbst mit Schutzjacke und Hose ausgerüstet und mit heruntergeklapptem Helmvisier durch Dick und Dünn. Dann gibt es ein Poltern ein wenig entfernt zwischen braunen Fichtenstämmen. Sieben oder acht Stück Rotwild springen aufgemüdet von der Jagd davon. Gesund und ohne irgendwie anzustreifen oder anders auffällig. Etwa 30 aufregende und spannende Minuten sind inzwischen vergangen. Scheinbar hat der Schütze geirrt. Und dennoch: Es geht zurück zum vermeintlichen Anschuss. Aufmerksam wer- den noch einmal zwei Bögen geschlagen, kurze Fährtenstü- cke verfolgt. Eine dritte potenzielle Fluchtfährte führt wieder hinein ins Grün, hindurch durch Dornen und Geäst, immer weiter durch das Jagen, die Richtung wechselnd, vorbei an anderen Schützen, die am Wegrand auf ein anderes Nachsu- chenergebnis warten. Ein Damwildschädel eines offensicht- lich im Vorjahr gestorbenen Hirsches landet im Gepäck des Begleiters. Zickermann und Lutz ziehen weiter, zwei Stunden lang auf frischen und offensichtlich gesunden Fährten, bevor es in Richtung Fahrzeug zurückgeht - nicht ohne das Hun- deführer und Hund noch einmal einen Kontrollbogen durch einen angrenzenden Jagdbereich schlagen. »Manchmal kann das Geschehen selbst Schützen irren lassen, die es besser wis- sen müssen, schmunzelt Zickermann bei der Rückkehr.« »Wir ziehen das große Los.« Ein unklarer Treffer eines Rot- wildtieres ohne bestätigende Schusszeichen am Anschuss auf einer schmalen Schneise zwischen hohen Fichten und Dickicht warten auf Hund, Hundeführer und Begleiter. Das Jagen letztlich auch das Unglück des Scheiterns und die Ab- gabe gleichsam unglücklicher Schüsse mit sich bringt, ist be- sonders den Schützen klar. Keiner kann sich des schlechten Gewissens und der Ungewissheit über ein schnelles Ende der beschossenen Kreatur entziehen. Leichtsinn wird kaum toleriert und führt heute in der Regel zu einer Verkürzung der Gästeliste. Und während die einen Jäger und Jägerinnen sich über ihr Waidmannsheil freuen und andere noch bangen, geht es hin- aus zu den Anschüssen. Spätestens wenn den Hunden ihre Schutzkleidung überge- streift wird, beginnt die heiße Phase der Nachsuchen. Auch für Lutz, inzwischen sechs Jahre alt, bedeutett das An- legen der Schutzweste, der Schweißhalsung mit einem Funk- sender und des orangeroten Schweißriemens, einer langen Führleine, den Beginn einer anstrengenden Arbeit. Der vermeintliche Anschuss ist mit einem Flatterband mar- kiert. Dort wo der Schütze den Treffer und die Fluchtrichtung des beschossenen Stücks Rotwild vermutet hat, weist ein Stück weißes Papier den Weg. 27 Wildes Schleswig-Holstein